Der Spardruck verursacht Verspätungen bei den SBB

Die Pannen bei den SBB häufen sich. Für die Staatsbahn ist das ein Zufall. Für Mitarbeiter ist es eine logische Folge des vernachlässigten Unterhalts.

Letzten Mittwoch um 6.30 Uhr streikte eine Weiche im Bahnhof Luzern. Die Pendler erreichten die Arbeit erheblich verspätet. Am 31. August führte ein beschädigter Isolator bei Thalwil zum Unterbruch der Linie Zürich–Chur. Die Reisezeit verlängerte sich um 60 Minuten. Am 16. August wurde die Fahrleitung der S-Bahn beim Zürcher Hauptbahnhof beschädigt. Am 14. August funktionierte das mobile Funksystem nicht. Am 11. August standen alle Züge im Tessin eine Stunde lang still. Die Ursache war ein kompletter Stromausfall.

Eine ganze Reihe von Pannen gab es am 3. September. Um 4.50 begann es an der Zürcher Hardbrücke mit einer Fahrleitungsstörung. Um 6.50 streikte ein Signal in Fahrtrichtung Altstetten. Um 8.15 versagte am selben Ort eine Weiche. Diese Störungen am Flaschenhals der Zürcher S-Bahn legten für kurze Zeit das Netz lahm. Zehntausende kamen zu spät zur Arbeit. Bis 11 Uhr war der Verkehr aus dem Takt. Zufall? Oder steckt mehr dahinter?

 

Bild: TA-Grafik kmh / Quelle: SBB

Leerlauf in der Wagenreparatur

Für Mitarbeiter der SBB, die ins Dossier Infrastruktur Einblick haben, ist die Antwort klar: Die Staatsbahn vernachlässigt ihre Infrastruktur aus Kostengründen. «Dies beweisen die gehäuften Störungen der letzten Tage deutlich und schneller, als ich erwartet habe», sagt ein Kenner. «Jeglicher Unterhalt wird hinausgezögert, bis Störungen einen geregelten Betrieb erschweren oder verunmöglichen.»

Seine Schilderungen sind detailliert. Der Weichenunterhalt etwa werde aufgeschoben, «bis es betriebsgefährdend wird und eine Weiche aus Sicherheitsgründen sofort gesperrt werden muss». Die Anlagenverantwortlichen erhalten von Streckenwärtern oder Lokführern Warnmeldungen, dürften eine Reparatur aber «aus Kostengründen» erst spät veranlassen – «oft erst, wenn es gefährlich wird».

 

Unterhalt hinausgezögert

Auch in Stellwerken und Relaisstationen werde der Unterhalt hinausgezögert. Relais würden nicht mehr gereinigt, Isolatoren lange nicht ersetzt. Daher versagten sie mitten am Tag. An Wagen und Loks dürfen nur gemeldete Schäden repariert werden. Stellt die Werkstatt weitere Mängel fest, darf sie diese nicht sofort beheben. Der Wagen fährt in den Einsatz und wird dann ein zweites Mal in die Werkstatt gebracht. «Das ist doch völliger Leerlauf», sagt ein Mitarbeiter.

Die SBB wehren sich gegen diese «Behauptungen»: «Die Sicherheit ist das oberste Gut, Halbheiten können und wollen wir uns da keine leisten, in diesem Bereich gilt Nulltoleranz», sagt Sprecher Reto Kormann. Stellen die SBB sicherheits- und verfügbarkeitsrelevante Mängel fest, würden diese «ohne Verzögerung» behoben. Ein Beispiel: Der Bruch eines Weichenherzstücks in Lausanne führte zu einer sofortigen Sperrung und Reparatur – trotz Verspätungen.

 

Halbe Bahnhöfe lahmgelegt

Die SBB-internen Kritiker beeindruckt das nicht. Stilllegungen führten zu grossräumigen Behinderungen, klagen sie. Um eine Fahrleitung zu reparieren, müssen der Strom ausgeschaltet und die Leitung geerdet werden. Die Strecken sind in Sektoren unterteilt. Früher waren die Fahrleitungssektoren engmaschig: War einer defekt, konnte man ihn umfahren. Heute werden Fahrleitungen aus Kostengründen in grossen Sektoren zusammengefasst. Um Schäden zu beheben, wird das Netz weiträumig abgeschaltet. «Für einen Defekt müssen oft halbe Bahnhöfe stillgelegt werden», sagt ein SBB-Mitarbeiter. Sind Bahnhöfe einer Transitstrecke betroffen, stehen die Züge in weiten Teilen der Schweiz still. Der Bahnhof Arth-Goldau auf der Strecke Zürich–Lugano etwa ist ein solcher Knotenpunkt – oder Dietikon.

Dort riss im Frühling ein Stromabnehmer. Die Fahrleitung war frisch gewartet aber seit 10 Jahren falsch konzipiert, sagen die SBB. Die Strecken von Zürich nach Bern und Basel waren lahmgelegt mit Konsequenzen für Hunderttausende von Passagieren. «Eine solch grosse Panne wie in Dietikon wäre früher mit mehr Fahrleitungssektoren nicht möglich gewesen. Man hätte differenziert schalten können», sagt ein weiterer SBB-Mitarbeiter.

 

Letzte Chance: Langsamfahrt

Anlagenverantwortliche sässen deshalb oft «wie wie auf Nadeln». Ihre einzige Möglichkeit ist, auf heiklen Abschnitten eine Langsamfahrt anzuordnen. Züge dürfen dann beispielsweise nur 50 statt 110 Stundenkilometer fahren. Zwanzig gibt es, vier Beispiele sind bekannt: Die Strecken zwischen Illnau und Fehraltorf, Pfäffikon ZH und Kempten sowie Ossingen und Stammheim. In Bülach darf eine Weiche nur mit 20 km/h befahren werden. Die SBB rechtfertigten sich in der Zeitschrift «Eisenbahn Amateur»: «Eine sofortige Sanierung, unbesehen der Dringlichkeit, wäre nicht haushälterisch und würde die zur Verfügung stehenden Mittel übersteigen.» Die SBB müssen sparen.

Seit Frühjahr gilt, dass Sanierungen «netzweit priorisiert werden, um mit den eingesetzten Mitteln den grösstmöglichen Nutzen zu erzielen». So verlangt es der neue Infrastrukturchef Philippe Gauderon. «Es könnte günstiger sein, anstelle einer punktuellen Sofortsanierung zuzuwarten, bis eine ohnehin geplante Totalerneuerung umgesetzt wird», so die SBB.

Bahnspezialisten sind besorgt. «Bei starker Auslastung einer Linie sollte der Präventivunterhalt wieder zur Pflicht werden», fordert ein Mitarbeiter der SBB. Der Sparkurs müsse gestoppt werden.

 

In 89 Prozent der Fälle pünktlich

Vor einer Woche sagte SBB-Konzernchef Andreas Meyer, der Sanierungsbedarf des gesamten SBB-Netzes betrage eine Milliarde Franken. Mayer nahm dabei auch Stellung zur Pannenserie. Er sagte: «Solche Vorfälle sind in einem derart komplexen System nicht zu verhindern.» Es liege in der Logik der Sache, dass Störungen auch gehäuft auftreten. Schliesslich beweise die gestiegene Pünktlichkeit im ersten Halbjahr, dass es im Durchschnitt nicht mehr Störungen gebe als sonst. Tatsächlich hat bis Ende Juli die Pünktlichkeit 89 Prozent betragen. Von 100 Fahrgästen sind 89 mit maximal drei Minuten Verspätung eingetroffen oder haben ihre Anschlüsse erreicht. Das sind zwei Prozent mehr als der Sollwert der Konzernleitung.